Geopolitik wird für Finanzmärkte immer relevanter

Mittwoch, 10. Mai 2023

Marktkommentar

„Geopolitik wird für Finanzmärkte immer relevanter“


Anna Rosenberg leitet die Abteilung Geopolitics des Amundi Institutes. Sie unterstützt das Amundi Portfoliomanagement mit einem fundierten Blick auf mögliche und bereits manifeste Krisen, Konflikte und Herausforderungen in der Weltpolitik. Auf der Amundi Investment Konferenz erläuterte sie, wie sich die geopolitische Analyse eines Themas gestaltet und welche Rolle Wahrscheinlichkeiten spielen. An den Beispielen des Ukraine-Kriegs und des Taiwan-Konflikts zeigte sie, dass das Abwägen geopolitischer Szenarien für Investoren einen wichtigen Orientierungsrahmen bieten kann. 

 

 Welche Rolle spielt Geopolitik derzeit für Investoren?

Wir sind davon überzeugt, dass ihre Bedeutung stetig wächst. Denn spätestens seit dem Brexit, der US-Präsidentschaft Trumps und auch der Covid-Pandemie ist die Marktrelevanz der Geopolitik deutlich erhöht. Mit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine im letzten Jahr und den aufflammenden Spannungen zwischen den USA und China rücken geopolitische Themen nun in den Mittelpunkt. Wir gehen davon aus, dass dies auch in absehbarer Zukunft so bleiben wird. Denn individualistische und länderspezifische Interessen gewinnen offensichtlich immer mehr die Oberhand. Deshalb steigt auch die Gefahr politischer und geopolitischer Risiken.

Wie gehen Sie als geopolitische Analystin prinzipiell vor, wenn Sie sich einem geopolitischen Thema, Konflikt oder einer aktuellen Herausforderung zuwenden?

Zuerst betreiben wir eine aufwändige Recherche, sowohl mit allgemein zugänglichen Studien und Analysen als auch unseren internen Quellen. Das können eigene Auswertungen oder auch Kontakte zu Spezialisten relevanter Fachgebiete sein. Dann entwickeln wir mögliche Szenarien, denen wir jeweils eine Eintrittswahrscheinlichkeit in einem bestimmten Zeitraum zumessen. Auf dieser Basis können dann Portfolios gegebenenfalls strategisch justiert werden, falls dies nötig oder gewünscht ist. 

Welche Szenarien haben Sie denn für dieses Jahr bezüglich des Kriegs in der Ukraine durchgespielt? 

In diesem Konflikt sind relative viele, mitunter gegensätzliche Entwicklungen denkbar. Denn wir halten beispielsweise das Szenario „mehrjähriger Krieg“ für recht wahrscheinlich und ebenso gut für möglich, dass wir Verhandlungen und auch einen Waffenstillstand in der zweiten Jahreshälfte sehen könnten. Aber auch eine Eskalation mit einer direkten Konfrontation zwischen Russland und dem Westen ist nicht auszuschließen. Da die Wahrscheinlichkeiten für einen klaren Sieg Russlands oder der Ukraine in diesem Jahr verschwindend gering sind, sollten Investoren die Situation aufmerksam verfolgen und möglichst flexibel bleiben. Dann könnte man auch vergleichsweise schnell reagieren, wenn sich abzeichnet, dass sich das eine oder andere Szenario durchsetzt. 

Wie wird sich denn die Beziehung der beiden neuen Rivalen China und USA aus Ihrer Sicht in nächster Zeit entwickeln? 

In der Tat hat China nun seine Strategie des Versteckens seiner Stärken und des Abwartens aufgegeben, um als selbstbewusster Akteur auf der Weltbühne aufzutreten. Auf längere Sicht der nächsten fünf Jahre dürften sich die Beziehungen der beiden Supermächte auf einem Abwärtspfad befinden. Aber auch schnelle Verschlechterungen und eine Eskalation sind denkbar, wenn man an die jüngste Ballon-Affäre oder die Provokationen rund um den Taiwan-Konflikt denkt. Eine tiefergehende Verbesserung der Beziehungen halten wir bis auf weiteres leider für eher unrealistisch. 

Wie bewerten Sie konkret die Gefahr einer chinesischen Invasion in Taiwan?

Die Staatsführung hat klargemacht, dass nun nach den schwierigen Pandemiejahren das wirtschaftliche Wachstum oberste Priorität hat. Deshalb sehen wir für dieses Worst-Case-Szenario im laufenden Jahr nur eine geringe Eintrittswahrscheinlichkeit. Denn ein Krieg würde sicher zu Sanktionen führen und insgesamt eine enorme Belastung für China darstellen. Eine temporäre Eskalation, wie zum Beispiel eine kurzzeitige Blockade der Insel, ist durchaus denkbar, wir erwarten jedoch, dass sich dann eher wieder der derzeitige Status Quo einpendelt.

Bei all den Herausforderungen: Sehen Sie aus geopolitischer Sicht auch Lichtblicke?

Auf alle Fälle, es gibt viele positive Entwicklungen. Beispielsweise ist die Beziehung zwischen der EU und Großbritannien aus unserer Sicht deutlich besser, als in den ersten Jahren nach dem Brexit. Die Vereinbarungen über Nordirland scheinen da nur der Beginn einer neu wachsenden Annäherung. Auch die wieder niedrigeren Energiepreise oder neue Handelsabkommen, etwa das immer wahrscheinlichere Freihandelsabkommen Mercosur zwischen der EU und Brasilien, Argentinien, Paraguay sowie Uruguay, bedeuten geopolitisch Aufwind. Die Wachstumsstory in Indien würde ich trotz innenpolitischer Herausforderungen ebenfalls zu den aktuellen Lichtblicken zählen.

 

 
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