Anlageaussichten nach der Europa-Wahl

Montag, 03. Juni 2019

„Europäische Binnenmarkt-Titel sollten profitieren“


Nach der Europa-Wahl sind Unsicherheiten aus dem Weg geräumt, Europa bleibt aber dennoch verwundbar. Was Anleger über den Fixed-Income-Bereich und Aktien jetzt wissen sollten, erläutert Thomas Kruse, Investmentchef bei Amundi Deutschland, im Interview.

 

Herr Kruse, wie geht es nach den Europawahlen in der Europäischen Union weiter?  

Eine Zäsur ist der Stimmenverlust für die Sozialdemokraten und die Christdemokraten. Beide Parteien hatten seit 1979 eine Mehrheit im Europäischen Parlament – das ist jetzt vorbei. Auffällig ist der Bedeutungsgewinn der marktfreundlichen Liberalen, einschließlich der Partei des französischen Präsidenten Macron, sowie der Grünen. Zusammengenommen stellen die proeuropäischen Kräfte 67 Prozent der Abgeordneten; vor der Wahl waren es 70 Prozent. Die populistischen und rechtsextremen Parteien haben ihre Gewichtung im Parlament von 20 auf 25 Prozent ausgebaut, was den Wählerentscheid in Frankreich, wo die Rassemblement National“ an erster Stelle vor der Partei des Präsidenten steht, und in Italien spiegelt. In anderen wichtigen Ländern wie Deutschland und den Niederlanden blieben die rechtsextremen Parteien leicht hinter den Erwartungen zurück, während der Stimmenanteil der linksextremen Parteien von insgesamt 10 auf 7 Prozent zurückgegangen ist. Alles in allem haben die euroskeptischen Parteien ihre Gewichtung von 30 auf 32 Prozent steigern können; der vor der Wahl von vielen erwartete Polit-Tsunami ist damit ausgeblieben.

Die beiden traditionellen Parteien der politischen Mitte, die durch eine Koalition entweder mit dem Liberalen oder mit den Grünen eine Mehrheit bilden können, werden es nun etwas schwieriger haben als früher, zur politischen Entscheidungsfindung zu kommen. Der kleine Machtzuwachs radikaler Parteien führt dazu, dass sie leichter parlamentarische Ausschüsse bilden und Änderungsanträge einbringen können; wichtige Gesetzesinitiativen können sie aber nicht blockieren. Anders sieht es allerdings bei Themen aus, bei denen die Kräfte der Mitte es schwer haben, sich auf einen gemeinsamen Nenner zu einigen.

Bemerkenswert ist der Anstieg der Wahlbeteiligung. Bei den Europawahlen war in der Vergangenheit die Neigung wählen zu gehen nicht nur gering ausgeprägt, sondern auch rückläufig. Diesmal stieg die Wahlbeteiligung von 43 Prozent auf rund 50 Prozent, was ein steigendes Interesse der Wähler an dem Staatenverbund zeigt, in dem sie leben.

Welche Auswirkungen könnten die aktuellen Handelsstreitigkeiten auf die europäischen Volkswirtschaften und das politische Gefüge in Europa haben?

Seit 2013 hat sich die Wirtschaftslage deutlich verbessert. Trotz großer Enttäuschungen im Jahr 2018 zeigten die über den Erwartungen liegenden Zahlen des ersten Quartals 2019, dass die Befürchtungen einer allgemeinen Rezession vor allem in Deutschland wahrscheinlich übertrieben waren. Die Binnennachfrage bleibt robust.

Dennoch bleibt Europa aus drei Gründen verwundbar: Aus wirtschaftlicher Sicht ist die Eurozone in zwei Teile gespalten. Auf der einen Seite herrscht Vollbeschäftigung, während auf der anderen Seite das Wachstum kaum vorankommt und die Arbeitslosigkeit weiterhin hoch ist. Zweitens geht aus politischer Sicht ein Riss durch die Eurozone, der sich gegenüber den vergangenen Jahren vergrößert hat. Die Wünsche der Südeuropäer stehen entgegengesetzt zu den Zielen des Nordens. Und drittens finden sich die Europäer zunehmend in einer multipolaren Welt wieder. Während der Staatsschuldenkrise 2008/09 haben die Hauptpartner USA und Großbritannien den Europäern geholfen den Euro zu retten. Doch die Regierungen in diesen Ländern haben gewechselt, und niemand weiß, wie die Länder in der nächsten Krise zu Europa stehen werden.

Zugleich droht Europa bei Entwicklung und Einsatz neuer Technologien immer mehr hinter den USA und China zurückzubleiben. Die Europäer müssen einen Weg finden, ihre Differenzen zu überwinden, um Europa zu stärken: Im Hinblick auf eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik, aber auch hinsichtlich einer tragfähigen Wirtschafts- und Finanzarchitektur in der Eurozone. Ebenso sollte sich Europa in der Handelspolitik aufraffen, mit einer Stimme zu sprechen.

Welches sind die wichtigsten makroökonomischen und geopolitischen Themen für die Zukunft der Europäischen Union, die das neue Europaparlament anpacken muss?

Viele Ökonomen verweisen auf die Zersplitterung der Eurozone und die Notwendigkeit eines gemeinsamen Haushalts. Ein Haushalt, der bei der Stabilisierung ihrer Volkswirtschaften hilft, sobald es zu einem schweren Schock kommt, der ein oder mehreren Mitgliedsstaaten zusetzt. Doch ein gemeinsamer Haushalt würde die einzelnen Länder ermutigen, in ihrem notwendigen Reformeifer nachzulassen. Ein gemeinsamer Haushalt würde finanzielle Transfers an bedürftige Volkswirtschaften beinhalten, was im Gegensatz zum Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) steht, der während der Finanzkrise ins Leben gerufen wurde, um den Staaten in der Krise Kredite als Gegenleistung für Strukturreformen anzubieten. Wegen des Widerstands der reicheren Länder in der EU ist es zum jetzigen Zeitpunkt unwahrscheinlich, dass es zu einem gemeinsamen Haushalt kommt.

Wichtig wäre auch eine Kapitalmarktunion. Mit integrierten Kapitalmärkten lassen sich asymmetrische Schocks in einer Währungsunion leichter abfedern. Es ist wie in der Unternehmenswelt: Wenn die Beteiligungsgesellschaften eines Unternehmens geografisch stark diversifiziert sind, sind auch die Gewinne und Verluste breit gestreut.

In der Eurozone werden Stimmen lauter, die mehr fiskalische Impulse fordern. Welche kurz- bis mittelfristigen Auswirkungen würden sich in der Eurozone ergeben?

Die EU-Wahlen fanden im Umfeld eines moderaten Wirtschaftswachstums statt. Forderungen nach mehr fiskalischen Impulsen spiegeln die Einschätzung wider, dass Europa in einer Zeit, in der die geldpolitischen Instrumente weitgehend ausgereizt sind, weiterer Stützungsmaßnahmen bedarf. Deutschland hat in diesem Zusammenhang viel mehr Handlungsspielraum als beispielsweise Italien.

Angesichts einer starken Fragmentierung in Europa bietet der Fixed-Income-Bereich viele Chancen; bei Anleihen bevorzugen wir Spanien und Portugal gegenüber Italien. Zudem sind wir positiv gegenüber Unternehmensanleihen aus der Industrie aufgestellt, bleiben aber mit Blick auf den deutschen Automobilsektor vorsichtig. Auch im Finanzsektor gibt es Chancen, insbesondere bei Bankentiteln; vorsichtig bleiben wir jedoch gegenüber italienischen Banken.

Der Druck seitens der Kapitalmärkte auf Italien ist wieder gewachsen. Das Land will erneut gegen die EU-Finanzvorschriften verstoßen. Wie bewerten Sie die Lage in Italien?

Unsere Haltung gegenüber Italien ist moderat vorsichtig. Sollte die Europäische Kommission ein Defizitverfahren gegen Italien anstrengen, könnte dieser Schritt die Volatilität erhöhen, ganz zu schweigen von möglichen Reaktionen der Ratingagenturen und Folgeschäden im italienischen Bankensektor. Kurzfristig sehen wir Italien nicht als große Bedrohung an, weil das Land und die EU zu einer Einigung über einen flexibleren finanzpolitischen Kurs kommen dürften.

Nimmt das Ergebnis der EU-Wahlen Druck vom Euro?

Der Euro hat auf das Wahlergebnis nur begrenzt reagiert, weil kein grundlegender Wandel bewirkt wird. Von Relevanz sind hier die Entwicklung der europäischen politischen Landschaft nach den kommenden Wahlen in jedem Land, die Notwendigkeit weiterer wirtschaftspolitischer Impulse und die zukünftige Entwicklung im Hinblick auf Zölle und Brexit. Das aktuelle Umfeld ist einer raschen Erholung des Euro nicht förderlich.

Erwarten Sie nach den EU-Wahlen eine verbesserte Anlegerstimmung im Hinblick auf Europa? 

Ja, nach den Wahlen ist viel Unsicherheit aus dem Weg geräumt, auch wenn die volle Handlungsfähigkeit des neuen Europaparlaments noch nicht wiederhergestellt ist: Sowohl die neue Kommission als auch der EZB-Präsident müssen noch gewählt werden. Brexit und Handelskonflikt belasten weiterhin stark – das sind zwei Unsicherheiten, die noch immer nicht geklärt sind.

Welche Chancen in europäischen Aktien bieten sich Anlegern in den kommenden Monaten an? 

Wir glauben, dass es bei Zyklikern noch gute Chancen gibt. Insbesondere Titel, die auf den europäischen Binnenmarkt ausgerichtet sind, sollten von einer Stabilisierung der Konjunkturindikatoren und einer möglichen Belebung im zweiten Halbjahr profitieren. Darüber hinaus sehen wir einzelne Chancen im Gesundheits- und Telekommunikationssektor.

Welche Anlagethemen sollten längerfristig für grüne Zahlen im Portfolio sorgen?

Die sehr guten Ergebnisse der Grünen bei den Wahlen sind ein klares Zeichen dafür, dass das Thema Nachhaltigkeit in der Bevölkerung vieler Länder an Bedeutung gewinnt. Das Bewusstsein der europäischen Unternehmen für die Herausforderungen durch den Klimawandel nimmt zu. Viele Unternehmen haben wichtige Schritte unternommen, um das Problem anzugehen. So gewinnen ESG-Faktoren (Abkürzung für Environmental, Social, Governance) bei Unternehmen und Investoren immer stärker an Bedeutung. Europäische Unternehmen haben bereits eine relativ gute ESG-Bilanz, dürfen aber in ihren Ambitionen nicht locker lassen. Es gibt eine zunehmende Zahl von Belegen dafür, dass Unternehmen, die ihre ESG-Grundlagen verbessern, dazu neigen, den Markt zu übertreffen. In diesem Bereich werden sich Anlegern in den kommenden Jahren Chancen bieten.

  

Wichtige Informationen

Soweit nicht anders angegeben, beruhen die hier enthaltenen Ansichten auf Recherchen, Berechnungen und Informationen von Amundi Asset Management und haben den Stand 31.05.2019. Diese Ansichten können sich jederzeit ändern, abhängig von wirtschaftlichen und anderen Rahmenbedingungen. Es gibt keine Gewähr, dass sich Länder, Märkte oder Branchen wie erwartet entwickeln werden. Diese Veröffentlichung ist kein Verkaufsprospekt und stellt kein Angebot zum Kauf oder Verkauf von Anteilen in Ländern dar, in denen ein solches Angebot nicht rechtmäßig wäre. Außerdem stellt diese Veröffentlichung kein solches Angebot an Personen dar, an die es nach der jeweils anwendbaren Gesetzgebung nicht abgegeben werden darf. Amundi Deutschland GmbH ist ein Unternehmen der Amundi Gruppe.